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Beitrag vom 26.05.2006
Eindrückliches Kino
Karin Effing
Hiner Saleem erzählt in seinem ruhigen Film "Kilometre Zero" die Geschichte von Ako, einem unfreiwilligen Soldaten kurdischer Abstammung, und seiner Hoffnung auf Flucht aus dem Irak.
Gewalt ist eine Macht, die von außen auf Menschen einbricht und ihre Wahrnehmung verstört. Das macht ihre Darstellung auf der Leinwand so prekär. Die ZuschauerInnen diesem Ansturm der Emotionen auszusetzen, ist fraglich. Nicht weil sie auf jeden Fall geschont werden sollten, sondern weil die Wucht der Gefühle Begreifen verhindert. Hiner Saleem hat sich mit seinem eindrücklichen Film Kilometre Zero, einer Art politischem Roadmovie durch Irakisch-Kurdistan, für eine stille und distanzierte Herangehensweise entschieden. Die alltäglichen Episoden aus dem Leben einer handvoll kurdischer Menschen verdeutlichen den Schmerz, die Wut und die Verletzungen mehr als die nackte Darstellung von Gewalt.
Ako und seine Frau Selma leben mit ihrem gemeinsamen kleinen Jungen in den unzugänglichen und prächtigen Bergen von Irakisch-Kurdistan. Idyllisch erscheint ihre luftige Wohnstätte in der von der Sonne beschienen Landschaft. Wäre da nicht der quengelnde sterbenskranke Vater von Selma. Und vor allem die politischen Umstände der 80er Jahre. Es ist Anfang 1988 und der Krieg zwischen Irak und Iran in vollem Gange. Es ist ein Jahr, das in die kurdische Geschichte eingehen wird. Denn am 16. März gehen irakische Truppen gegen die kleine Stadt Halabja mit chemischen Waffen vor. 5.000 Tote sind die Folge. Aber zu dem Zeitpunkt wird die kleine Familie Akos zum Glück das Land schon verlassen haben.
Eines Tages gerät Ako in eine Personenkontrolle und wird gegen seinen Willen in die irakische Armee eingezogen. Er bittet seine Frau Selma, mit ihm das Land zu verlassen bevor er an die Front muss. Selma weigert sich jedoch. Sie möchte den kranken, bettlägerigen Vater nicht allein zurücklassen.
An der iranisch-irakischen Kampflinie muss Ako nicht nur dem verhassten Diktator Saddam Hussein dienen. Er und seine Freunde sind auch antikurdischen Schmähungen, Folter und Einschüchterung ausgesetzt.
Gerne möchte er ein Bein opfern, wenn er dafür sein Leben retten und nach Hause zurückkehren kann. Im Schützengraben versucht er dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, indem er jeweils eines seiner Beine in die Schusslinie hält. Er hat jedoch keinen "Erfolg".
Als er den Auftrag erhält, die Leiche eines getöteten Soldaten seiner Familie zu überbringen, beginnt eine spannungsgeladene Tour mit seinem arabischen Fahrer. Die beiden Männer durchqueren das Land mit dem in eine irakische Fahne gehüllten Sarg auf dem Dach des Wagens. Begleitet werden sie von politischen Ansprachen Saddam Husseins im Radio und von einer fahrenden Statue des Diktators, die die beiden unfreiwilligen Reisegenossen geradezu zu verfolgen scheint.
Ako hofft, fliehen zu können und lockt den Fahrer in den Norden des Landes, nach Kurdistan…
Hiner Saleem hat vor 20 Jahren den Irak verlassen und lebt heute in Frankreich. Vielleicht hat ihm der Abstand ermöglicht, diesen stillen und eigenartig humorvollen Film zu drehen.
Die Kamera beobachtet diskret und respektvoll die Gesichter der Menschen und erkundet in ihnen, was sie wahrscheinlich aus Misstrauen und Angst verschweigen. Immer wieder tritt die Landschaft ins Bild, ihre Schönheit und mit ihr die Sehnsucht nach einem verlorenen Land.
Statt Gewaltexzesse auf der Leinwand hat er eindrückliche Bilder für Folterung und Einschüchterung gefunden. So wird zum Beispiel ein Freund Akos, der korpulente Sami, gezwungen, spärlich bekleidet immer wieder einen kurdischen Tanz zur Belustigung der irakischen Soldaten vorzuführen.
Spürbar ist ein zarter und zugleich makabrer Humor, der auf diese Weise nur durch tiefe Verzweiflung und den Wunsch, auch noch in hoffnungsloser Lage zu Überleben entsteht.
Hiner Saleem lässt Selma in Frankreich einen Satz seines eigenen Großvaters sagen: "Unsere Vergangenheit ist traurig, unsere Gegenwart ist tragisch, zum Glück haben wir keine Zukunft." Das Paar spricht im neuen Land französisch miteinander, als hätten sie nicht nur ein Land, sondern auch einen Teil ihrer Identität verloren.
Kilometre Zero war Wettbewerbsbeitrag bei den Filmfestspielen in Cannes 2005.
Im April 2004 erschien das Buch Das Gewehr meines Vaters - eine Kindheit in Kurdistan von Hiner Saleem im Piper Verlag.
Hiner Saleem wurde 1964 in Kurdistan, im Norden des Iraks, geboren. Mit 17 Jahren flüchtete er über Syrien nach Italien, wo er weiter die Schule besuchte und in Mailand Politologie studierte. Heute lebt er als Filmemacher, Maler und Autor in Paris.
Sein vierter Film Vodka Lemon gewann auf dem Festival von Venedig 2003 den San Marco Preis für den besten Film. 2004 wurde er für Vodka Lemon mit dem One Future Preis der Interfilm-Akademie ausgezeichnet.
AVIVA-Tipp: Kilometre Zero von Hiner Saleem ist ein stiller beobachtender Film, der die Verlassenheit derjenigen zeigt, die aufgrund von psychischer und physischer Bedrohung ihre Heimat verlassen müssen. Eindrücklich und sehenswert.
Kilometre Zero
Frankreich/ Kurdistan 2005, 96 min.
Regie: Hiner Saleem
Buch: Hiner Saleem
Kamera: Robert Alazraki
Musik: Nikos Kipourgos, Yan Axin
Produzenten: Alexandre Mallet-Guy, Hiner Saleem, Émilie Georges
DarstellerInnen: Nazmî Kirik, Eyam Ekrem, Belcim Bilgin, Ehmed Qeladizeyi, Nezar Selami
Kinostart: 25.05.06